Ich sehe dich

Ich sehe dich. Worte, die ich in den letzten Tagen, Wochen immer und immer wieder höre. Worte, die wir viel zu selten meinen und noch weniger sagen. Worte, die jedoch so viel mehr bedeuten, als man auf dem ersten Blick erahnen mag.

Zuletzt sind sie mir auf dem TeamLiebe-Festival vor zwei Wochen begegnet. Zur Begrüßung haben wir uns gegenseitig ein “Ich sehe dich” gesagt. Inspiriert war dies vom Begrüßungsritual der Zulu.

Ich sehe dich, damit du existieren kannst

Die Zulu in KwaZulu-Natal begrüßen sich mit dem Wort “Sawubona” und es bedeutet so viel mehr, als ein typisches deutsches “Hi, wie geht es dir?”. Das komplette Begrüßungsritual läuft dabei so ab, dass man sich einander in die Augen schaut, sich bewusst gegenseitig wahrnimmt und erst dann “Sawubona” sagt. Wenn der Gegenüber bereit ist, antwortet man mit “Shikoba”.

„Sawubona“ – „Shikoba“

Begrüßung der Zulu

Sawubona bedeutet “Ich sehe dich, ich nehme dich wahr, du bist mir wichtig und ich schätze dich”. Man schenkt dem gegenüber jetzt seine Aufmerksamkeit. Man nimmt ihn an mit all seinen Träumen, Werten, Erfahrungen, Ängste und Fehler. Wahrnehmen ohne zu werten oder bewerten. Einfach nur sehen und akzeptieren, so wie der Gegenüber wirklich ist.

Die Antwort “Shikoba” bedeutet “Ich bin hier, ich existiere für dich”. Es bedeutet “weil du mich siehst, kann ich existieren. Ohne dich, kann ich nicht existieren.” Ohne einem Umfeld, weiß man nicht, ob man existiert oder nicht. Man braucht die Resonanz von außen. Und genau dies wird mit Shikoba ausgedrückt. Es ist eine Anerkennung des Gegenübers, dass er einen sieht und wahrnimmt.

In der Zulu-Gemeinschaft geht man davon aus, dass jedes Individuum nur durch die anderen Mitglieder in der Gemeinschaft existieren kann. Und genau hier liegt ein Schlüssel dieser. Man braucht andere Menschen, um aufwachsen zu können, in der alltäglichen Aufgabenteilung oder einfach nur für die soziale Interaktion. In dem man sich in die Gemeinschaft einbringt, erhält man gleichzeitig einen Teil aus dieser zurück. Jedes Individuum in der Gemeinschaft ist wichtig und erfüllt seine Aufgabe und trägt damit zum Gesamtwohl aller bei.

Übrigens, wenn bei den Zulu jemand etwas unangemessenes oder böses tut, wird diese Person die Mitte des Dorfes gestellt und jeder aus der Gemeinschaft kommt zu ihr, begrüßt sie mit “Sawubona” und sagt ihr dann, was sie Gutes getan hat. Sei es in Handlungen, Worten, Erfolge oder Talenten. Mit “Shikoba” antwortet die Person, weil sie daran erinnert wird, dass sie ein wichtiger Teil der Gemeinschaft ist und nur durch diese existieren kann. 

Auch hier geht es wieder um das sehen, um wahrnehmen der einzelnen Personen. Man kann nur dann etwas positives von einer Person hervorheben, wenn man sie wirklich sieht. Und ist dies nicht ein wunderschönes Ritual, um den Personen zu zeigen, wie wertvoll sie sind, auch wenn sie kurzzeitig von ihrem Weg abgekommen ist?

Oe-l nga-ti kameie – Ich sehe dich

Hast du den Film Avatar gesehen? Im Film gibt es eine Szene, in der die Worte “Ich sehe dich” eine bedeutende Rolle einnehmen. Es ist die Szene kurz nachdem Miles Quaritch Jack und Grace gefangen genommen hat und Trudy diese zusammen mit den anderen durch die Umsiedlung des Modul der Laborbaracke via Hubschrauber rettet. Dabei wird das Modul jedoch zerstört und Neytiri rettet Jack mit dem Aufsetzen der Atemmaske. Darauf hin sagt Jack zu Neytiri “Ich sehe dich” und diese beantwortet dies mit “Ich sehe dich”. Es ist im ganzen Film das erste Mal, dass sich Jack und Neytiri wirklich sehen. (Du kannst diese Szene auf YouTube nochmal anschauen)

Jack nimmt Neytiri in diesem Moment ganz bewusst war. Es ist ein Teil der Entwicklung, die Jack während dem Kontakt mit den Na’vi durchläuft und hilft ihm, die Na’vi wirklich zu verstehen. Er nimmt Neytiri wirklich wahr, als Na’vi, als vollkommenes Individuum und nicht als jemand, den man für das eigene Verlangen nach Rohstoffen mal eben schnell beseitigen kann. Und genau dieses Verstehen des Satzes “Ich sehe dich”, lässt Jack die Kultur und Lebensweise der Na’vi verstehen und macht ihm deutlich, dass die Na’vi ihren Lebensraum nicht aufgeben werden.

Ich sehe dich

Es ist nur eins der Vorkommen von “Ich sehe dich” im Film. Die Na’vi sind ein sehr naturverbundenes Volk. Sie haben verstanden, dass sie eins sind mit der Natur und nur zusammen mit dieser überleben können. Das Wahrnehmen und Sehen der anderen Individuen und der Natur ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur und des Lebens auf Pandora. Und somit begrüßt man sich bei den Na’vi wie auch den Zulu mit “Ich sehe dich”. 

Als Gegenpol dazu haben wir Miles Quaritch. Er ist der militärische Leiter der Expedition und will die Na’vis vertreiben, um an die Rohstoffe, die unter ihrer Heimat liegen, zu kommen. Dabei will er die Na’vi nicht wahrnehmen, er will sie nicht sehen. Er sieht nur sich selbst und seine Bedürfnisse. Für ihn ist es ein Teil seines Erfolges, die Na’vi mit allen Mitteln zu vertreiben um an den wertvollen Rohstoff zu kommen. Er sieht die Kultur und Lebensweise der Na’vis nicht. Er erkennt sie nicht an.

Wer die Filme kennt, weiß, dass es genau dies zum großen Konflikt und dem Krieg am Ende des Filmes führt. 

Ich sehe dich nicht

Wir in Deutschland begrüßen uns üblicherweise mit einem “Hi, wie geht es dir?” Wir fragen bei der Begrüßung, wie es einem geht. Dies soll lieb gemeint wirken, aber sind wir mal ehrlich, außer einem “gut” wollen wir dann doch nichts hören. Vielleicht dulden wir noch ein zwei Sätze der Erklärung. Aber wehe es sagt jemand, dass es ihm nicht gut geht und will dann auch noch darüber reden.

Mit dieser Form der Begrüßung sehen wir unsere Mitmenschen gar nicht mehr. Wir verwenden leere Floskeln, um nicht hinschauen zu müssen. Wir nehmen die Mitmenschen nicht mehr wahr. In der Unterhaltung geht es weiter. Wir wollen von uns erzählen, was wir tolles gemacht haben. Noch schnell nebenher das Smartphone checken und ist der Streit am Nachbartisch nicht einfach spannender?

Wir sind zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Wir kommen gar nicht mehr im Jetzt an und können unsere Aufmerksamkeit gar nicht mehr einer Person schenken. Letztendlich müssen wir doch dieses “Mehr” jagen. Mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Karriere, mehr Haben, weniger Sein.  

In den letzten Tagen und Wochen kam daher auch immer häufiger ein “ich sehe dich nicht” bei mir an. Sei es weil einem Gefühle und Verhaltensweise zugeschrieben werden, ohne überhaupt nachzufragen, was die Person eigentlich fühlt. Sei es durch Vorschriften, wie andere Personen leben sollen, ohne nachgefragt zu haben, wie die Person leben möchte. Oder sei es der unaufgeforderte Ratschlag aus leeren Floskeln, ohne zugehört zu haben.

In all diesen und weiteren Situationen sehen wir die Menschen mit denen wir interagieren nicht. Wir neben uns nicht mehr die Zeit, andere zu sehen. Wir gehen vermeintlich auf andere ein, weil wir ihnen helfen wollen, und das ist doch lieb gemeint? Aber sind wir mal ehrlich, wir gehen dabei auf die Person gar nicht ein. Wir sehen nicht. Wir wollen nicht sehen, weil wir dann anders Handeln müssen. 

Ich sehe dich, weil ich dich anerkenne

Auf dem TeamLiebe-Festival sind wir uns begegnet und haben “Ich sehe dich” zueinander gesagt. Und auch wenn du es nicht glaubst, diese Form der Begrüßung hat entscheidend dazu beigetragen, die ganze nachfolgende Kommunikation zu vertiefen.

Ich habe mich mit vielen Menschen auf dem Festival unterhalten und kein einziges Gespräch war oberflächlich. Man hat sich kennengelernt, wie man wirklich ist, mit den Ängste, großen Träume, was einem wichtig ist. Ich habe diese Menschen gesehen.

Lasst uns doch alle wieder mehr uns sehen. Sehen wir uns doch alle wieder, wie wir sind, welche Träume und Ängste wir haben, was uns ausmacht. Lasst uns alle wieder mehr auf die Person gegenüber fokussieren und mehr im Moment sein. Lasst uns alle mehr “Ich sehe dich” sagen und schauen, welche Magie in diesen Worten liegt. 

Ich sehe dich.

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