Fliegen lernen

Heute kommen wir nochmal zurück zum Thema Bungy Jumpen. Ich hatte bereits im Artikel Face your limits über Bungy Jumpen gesprochen. Dabei ging es um meinen ersten Versuch zu springen. Wer den Artikel gelesen hat, weiß, dass ich auf Grund meiner Höhenangst nicht gesprungen bin. Vom Jump Master hab ich noch mit auf dem Weg gegeben, wer beim ersten Mal nicht springt, wird nie springen.

Die Worte „That’s the girl who didn’t jumped.“ haben sich nach dem 31. August 2008 in mein Gedächnis eingebrannt. Ich hörte sie immer und immer wieder. Der Versuch wurde in der Zeit danach nicht mehr erwähnt. Es wussten bis vor kurzem nur die Personen, die damals dabei waren, von diesem ersten Versuch. Alle anderen kennen nur den zweiten Versuch und die Bilder dazu.

Zurück nach Taupo, zurück zum Bungy Jumping

Allerdings wollten nach dem Video meiner Freundin auch andere, die wir in Auckland kennengelernt haben, Bungy Jumpen und so kam es, dass wir kurze Zeit später wieder nach Taupo fuhren. Die Stadt liegt nur gute drei Stunden Fahrt von Auckland weg. Sie liegt direkt am gleichnamigen See Lake Taupo und im Hintergrund sieht man schneebedeckte Berge. Wer mich kennt, weiß, dass ich eine Vorliebe für Städte, am See liegend mit schneebedeckten Berge im Hintergrund habe. Immerhin gibt es da noch eine Stadt in meinem Leben, die ähnliches zu bieten hat.

Zurück zum Thema: Bei diesem Wochenendtrip ging es also wieder nach Taupo. Vor Ort wollte man sich aufteilen und unterschiedliche Freizeitaktivitäten nachgehen. Ich war mir sicher, dass ich nicht noch einmal versuche, zu springen. Allerdings reizte mich Bungy Jumpen nach wie vor und somit bin ich mit den anderen mit zur Sprungstelle. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, an den Ort des Scheiterns zurück zu kehren.

Ich sah zu, wie sich meine Bekannte ihr Ticket kaufte und ebenfalls ohne Probleme sprang. Ohne Höhenangst ist das wohl doch deutlich einfacher. Ich fühlte mich frei und leicht. Irgendwie war der Druck vom letzten Mal weg. Auch war keine Angst da. Irgendwie fühlte es sich dieses Mal anders, ja deutlich besser an.

Und so kam es, dass ich, aus einer spontanen Laune heraus, es noch einmal versuchen wollte. Ich wusste dieses Mal, was mich erwartet. Ich kannte den Prozess der Vorbereitung und ich wusste, wie sich die Angst an der Absprungkante anfühlt. Und vor allem wusste ich, dass alles eine reine Kopfsache ist.

Ich kaufte mir also wieder ein Ticket. Der Gang auf die Plattform war deutlich einfacher als letztes Mal. Der Jump Master war ebenfalls eine andere Person und wir scherzten während den Vorbereitungen miteinander. Als es die letzten Schritte zur Absprungkante ging, kam jedoch langsam die Angst wieder. Dieses Mal hatte ich weniger Angst vor der Höhe sondern viel mehr Angst vor der Angst, die mich an der Kante erwarten würde. Ich redete mir jedoch weiterhin ein, dass es nur eine Kopfsache ist und ich es dieses Mal schaffen werde. Dieses Mal bin ich nicht „the girl who didn’t jumped.“

Der Sprung

Und dann stand ich da, an der Absprungkante und es kam erstens anders und zweitens als man denkt. Da war keine Angst. Da war keine Panik. Wie ihr auf dem Foto zu Beginn des Artikels seht, strahle ich in die Kamera. Dieses Mal gibt es kein von der Angst gezeichneter Gesichtsausdruck. Ich konnte an der Absprungkante stehen, ohne in Angst und Panik zu fallen. Und da wusste ich, dieses Mal schaffe ich es. Dieses Mal bin ich stärker.

On the other side of your maximum fear, are all of the best things of life.

Will Smith

Ich breitete wieder die Hände aus. Der Jump Master stand hinter mir und fing an zu zählen.
„Three“ – Ich spürte, wie die Angst langsam aufkam.
„Two“ – Ich fragte mich, wie man nur so blöd sein kann, es noch einmal zu probieren.
„One“ – Die Angst vom letzten Mal war im vollen Umfang wieder da. Noch stärker als beim letzten Versuch. Panik machte sich in mir breit.
„Bungy“ – Und ich sprang.

Am 14. September 2008, nur zwei Wochen nach meinem ersten Versuch – der Versuch, an dem ich gnadenlos gescheitert bin – sprang ich. Und ich schrie. Ich schrie alles raus. Doch ich hatte es geschafft. Ich bin „the girl who bungy jumped.“

Bilder vom Bungy Sprung
Bilder vom Bungy Sprung

Der Jump Master wusste natürlich vom ersten Fehlversuch. Ich hatte es ihm während den Vorbereitungen im Gespräch gesagt. Und um meinen Sprung zu einem besonderen Highlight zu machen, hat er beschlossen, meine Hände ins Wasser eintauchen zu lassen. Davon wusste ich jedoch nichts. Und damit sah ich im Moment, als meine Hände das Wasser berührten, mein Leben an mir vorbei ziehen. Ich dachte, dass war es. Ich schrie ein weiteres Mal, dieses Mal um mein Leben. Es dauerte einen Moment bis ich realisierte, dass das Seil mich wieder nach oben zog.

Und erst beim nachfolgendem Auspendeln des Seiles konnte ich den Sprung vollens genießen und das Adrenalin seine Arbeit machen lassen. Denn da war sie, die andere Seite der Angst. Die Seite, auf der die besten Dinge des Lebens liegen. Die Seite, auf der die Freiheit liegt. Eine Freiheit, die ich vor und nach dem Erlebnis nie wieder in dieser Deutlichkeit spürte.

Nach dem Auspendeln des Seils, wird man vom Jump Master am Seil heruntergelassen. Mitarbeiter auf einem Boot nehmen einen in Empfang und lösen die Halterung des Seils. Ich lag im Boot und war sprachlos. Der Blick ging in den blauen Himmel und ich fand keine Worte. Die Frau fragte mich, wie der Sprung war? Ich hörte ihre Stimme, konnte sie aber nicht zu ordnen. Sie fragte mich erneut und ich nahm sie langsam wahr. Sie fragte etwas deutlicher, wie mein Name ist? Ich schaute sie an. Sie hatte dunkelblonde gelockte Haare. Sprechen konnte ich noch immer nicht. Mit leicht hörbarer Panik in der Stimme fragte sie mich „Where are you from?“ und meine Antwort war ein leises „Germany“. Die Erleichterung der Frau war deutlich. Wir waren zwischenzeitlich wieder an Land angekommen und sie half mir an Land.

Was ich daraus gelernt habe

Es hat neun Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass der erste Sprung ein wesentlicher Teil des Prozesses war. Es war ein wichtiger Schritt. Ich habe gelernt, dass es okay ist zu scheitern. Die Welt geht nicht davon unter. Jeder Mensch hat seine Grenzen und an diese darf man auch mal stoßen. Es war kein leichter Prozess, dies zu erkennen und zu akzeptieren, aber es ist dennoch eine wichtige Lektion.

Ich habe aber auch gelernt, dass es immer eine zweite Chance gibt. Vielleicht ist die zweite Chance nicht so leicht zu erkennen, vielleicht ist sie etwas anders. Aber sie ist da und du kannst sie nutzen, wenn du verstanden hast, warum du beim ersten Mal gescheitert bist. Denn letztendlich hab ich diese Grenze nicht akzeptiert und durch den zweiten Versuch mehr als gesprengt. Und weiß ich daher auch, wie es sich anfühlt, einen Schritt zu weit zu gehen und weiß, dass es letztendlich nichts zu verlieren gibt. Man muss lediglich los lassen, um fliegen zu lernen. Das klingt definitiv einfacher, als es ist. Aber es ist dennoch nicht unmöglich.

Mit dem Sprung hatte ich nicht nur meine Höhenangst überwunden, ich habe auch gespürt, wie sich Todesangst anfühlt. Ich hatte auch dieser Angst für einen kurzen Moment in die Augen geschaut. Ich habe durch beide Versuche gelernt, was es heißt, wirklich Angst zu haben. Und ich habe gelernt, dass Ängste vor allem eine Kopfsache sind. Beim zweiten Sprung habe ich jedoch gelernt, dass man alle Ängste loslassen kann. Ja, dass man die Ängste loslassen, hinter sich lassen muss, um fliegen zu lernen.

Nach dem Sprung, als ich im Boot lag und in den Himmel schaute, habe ich mich selbst gefunden. Ich habe meinen inneren Mittelpunkt gefunden. In diesem Moment war alles möglich. Es war alles erreichbar und vor allem gab es nichts mehr, wovor ich noch Angst haben musste. Und ich wusste, dass ich alles erreichen kann, wenn ich den Willen dazu habe. Noch heute ist dies ein Anker in meinem Leben, an dem ich, wenn ich es benötige immer wieder zurückkomme und die Kraft und die Stärke herausziehe um weiter zu machen und weiter zu gehen. Das ist der Anker, aus dem ich mein Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zum Großteil beziehe. Das ist der Anker, der mir begegnet, wenn ich wieder einen Schritt über meine Grenzen gehe.

Der Sprung ermöglichte mir letztendlich viele weitere Erlebnisse in Neuseeland. Die Zeit in Neuseeland hat mich verändert. Der Sprung war ein wesentlicher, vielleicht der erste aber nicht der alleinige Schritt, der zu dieser Veränderung geführt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Am Ende des Tages bleibt damit nur die Frage: Wovor muss man noch Angst haben, wenn man die größte Angst überwunden hat?

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